Neue Akzente Religion – Das Konzept kontextueller Religionsdidaktik für die Sekundarstufe II[1]
Eine kontextuelle Religionsdidaktik soll – auch in der Sekundarstufe II – Elemente einer recht verstandenen Korrelationsdidaktik oder einer anderen didaktischen Konzeption nicht einfachhin ablösen, sondern lässt „Kontextualität" als eine übergreifende Kategorie begreifen, die verschiedene fachdidaktische Ansätze zu integrieren imstande ist.
Für das Verständnis der im Unterricht zur Disposition stehenden „Sache“ ist es aber ebenso erforderlich, die religiöse Tradition in ihrem jeweiligen methodischen Zugang unter Berücksichtigung des geschichtlichen Kontextes zu betrachten. Auch hierzu ein Beispiel:
Die Perikope von der „Bindung Isaaks“ (Gen 22,1-19) wird von Schülerinnen und Schülern in unkritisch-naiver Weise mit dem Hinweis auf den „Richter-Gott des Alten Testaments“ kommentiert, der - ganz im negativen Sinne von Franz Alt – „mit dem Gott Jesu nichts gemeinsam habe“ (vgl. NEUE AKZENTE RELIGION 4: Spuren Gottes). Erst die historisch-kritische Betrachtung der Schriftstelle, d.h. die Bestimmung der Form (Ätiologie) und ihres „Sitzes im Leben“ sowie die Eruierung des religiös-politischen Hintergrundes im Umfeld Israels (Menschenopfer bei den Kanaanitern) lassen elementarisiert die Klischeehaftigkeit und antijüdische Tendenz der Schüleräußerungen bewusst werden. Durch die Erhellung des historischen Kontextes – soweit dies vom Forschungsstand in seiner Komplexität möglich - kommen Schülerinnen und Schüler der vermuteten Verfasserintention – zumindest hypothetisch - näher und sehen sich in der Lage, ihre eigenen vorgängigen (zumeist vorurteilsbehafteten subjektiven) Vorstellungen zu reflektieren, zu relativieren und zu revidieren. Damit dieser Verstehensprozess fruchtbar werden kann, ist es von großer Relevanz, dass die Schüler und Schülerinnen Forschungsmethoden kennen lernen, die es ihnen ermöglichen, die Interpretationsergebnisse nachzuvollziehen oder selbsttätig zu finden. Wenn den Lernenden darüber hinaus transparent würde, dass unterschiedliche Forschungsmethoden zu jeweils anders akzentuierten Ergebnissen (manchmal freilich zu recht ähnlichen) führen können, dürfte Religionsunterricht dem Ziel, Methodenbewusstsein zu bilden, ein gutes Stück näher gekommen sein. - Für die Interpretation von Gen 22,1-9 in NEUE AKZENTE RELIGION 4, Spuren Gottes, ergibt sich als mögliche Konsequenz: Hinter den methodischen Denkanstößen aus dem Blickwinkel historisch-kritischer Exegese wird eine jüdische Auslegung von Elie Wiesel (NEUE AKZENTE RELIGION 4: Spuren Gottes) vorgestellt, die im folgenden Abschnitt „Jüdische Schriftauslegung" (NEUE AKZENTE RELIGION 4: Spuren Gottes) auf ihre methodischen Prinzipen hin reflektiert wird. Über die Rezeption eines (zunächst) ungewohnten und fremden Auslegungsansatzes aus jüdischer Überlieferung werden eigene christliche – in der Aufklärung grundgelegte - Interpretationsansätze aus historisch-kritischer Perspektive vermittelt und zur Diskussion gestellt.[2]
Nimmt Religionsunterricht seine Aufgabe einer religiösen Sprachlehre ernst, so hat er als Kontext den Kanon der schulischen Fächer zu berücksichtigen, die im weiteren Sinne hermeneutisch vorgehen, etwa kulturwissenschaftlich ausgerichteter Fächer wie Literatur, Deutsch, die Sprachen, Geschichte, Kunst, Musik etc. Zugleich ergeben sich auch mannigfache Berührungspunkte zu Naturwissenschaften, zu weiteren Fächern bis hin zum Sport. Im Blick auf die Unterrichtsfächer der gymnasialen Oberstufe ist Profilierung von Religionsunterricht als Partner für fachübergreifendes und fächerverbindendes Lernen herausgefordert. Offenheit für die Begegnung mit anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen könnte eine Richtung anspruchsvoller Profilbildung weisen. Diesem vertretenen dialogischen Ansatz von Religionsunterricht liegt die Überzeugung zugrunde, dass Identitätsstiftung nicht nur durch die Rezeption der eigenen religiösen Tradition auf dem biographischen Hintergrund der Fragen und Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern erfolgen kann und sollte, sondern dass es genauso gut - oder zuweilen noch besser - möglich ist, das spezifisch Christliche über den Dialog und die Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen[3] zu erfassen. Das Neue und Fremde fordert heraus, regt zum Fragen an, lässt auch Eigenes in seinem besonderen Wert wie seiner kulturspezifisch-geschichtlichen Kontingenz deutlicher hervortreten. Ein vertieftes Verständnis kann angebahnt werden. Ein Beispiel aus NEUE AKZENTE RELIGION 2: Wegweisungen: In dem Kapitel „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung“ wird die indische Religion des Jainismus angeführt. Diese religiöse Richtung verneint die Existenz eines personal verstandenen Schöpfergottes; die Welt besteht nach der Vorstellung der Jaina-Religion aus sich selbst, alle Lebewesen sind miteinander verbunden, ihnen gebührt daher Ehrfurcht und Respekt in einem radikalen Sinn: Angehörige dieser Religion vermeiden es weitestgehend, Menschen, Tiere und Pflanzen zu schädigen - daher sind sie Vegetarier und unterwerfen sich mancher strengen moralischen Regel. - Der Jainismus: eine ethische Religion ohne einen theistischen Bezugspunkt. Die Kontrastierung mit der „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ Albert Schweitzers, der sich intensiv mit dem Jainismus auseinandergesetzt hat, führt zu einer klareren Sicht seines Standpunktes, der sich im Kontext der christlichen Positionen unseres Kulturkreises versteht, und wird für viele Schülerinnen und Schüler in größerer Tiefe verständlich. Da die Jaina-Religion trotz ihrer relativ kleinen Anhängerschaft von wenigen Millionen Gläubigen wirkungsgeschichtlich großen Einfluss auf die Kultur Indiens allgemein und die Vorstellungen Mahatma Gandhis zur Gewaltlosigkeit und in dessen Nachfolge auch Martin Luther Kings speziell ausgeübt hat, ergeben sich darüber hinaus mannigfaltige Anknüpfungspunkte fachübergreifenden und fächerverbindenden Unterrichts, hier etwa im Blick auf Geschichte, Geographie, Philosophie und Sozialwissenschaften. Ein solcher Unterricht, der den Dialog mit anderen Kulturen aufgreift, Empathie und Toleranz dem Fremden gegenüber zu fördern intendiert, erscheint im Kontext der anderen Unterrichtsfächer auch im Blick auf soziale Ziele in besonderer Weise qualifiziert, zumal von vielen im schulischen Raum die pädagogische Dringlichkeit erkannt wird, Schülerinnen die Chance zu bieten, diese gesellschaftlich relevanten Qualifikationen im Umgang mit anderen zu erwerben. Ein in dieser Weise gestalteter Religionsunterricht, der auf Personalkompetenz, Sozialkompetenz und Fachkompetenz abzielt, wird als Partner in Projekten fachübergreifenden und fächerverbindenden Unterrichts an Attraktivität gewinnen.
Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Stellenwert der Bezugswissenschaften und -disziplinen einer kontextuellen Religionsdidaktik wird Religionsunterricht nicht einlinig zu bestimmen sein. Theologie wird stärker von fundamentaltheologischen Impulsen her die Didaktik des Religionsunterrichtes befruchten können, dogmatische Inhalte bleiben - je nach Kontext - eher im Hintergrund. Daneben dürfte die Religionswissenschaft mehr als bislang zu Rate gezogen werden, etwa bei der Thematisierung anderer Religionen im Rahmen interreligiösen Gesprächs. Diese Überlegung macht die konfessionelle Verfasstheit des Religionsunterrichts - wie kurzschlüssig vermutet werden könnte - jedoch nicht überflüssig: Dialogizität setzt als Möglichkeitsbedingung vielmehr einen Standpunkt voraus, der jeweils auch den konfessions- und religionsspezifischen Kontexten in der Erfahrungswelt aller am Religionsunterricht Beteiligten zu genügen hat.
In den Bänden der Reihe NEUE AKZENTE RELIGION sind bereits viele Texte und Bilder enthalten, die den Dialog und die Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen und Religionen in zunehmendem Maße thematisieren.
[1] Georg Bubolz/Klaus Otto (Hrsg.), Die Taube mit dem Ölzweig. Einführungskurs; Georg Bubolz/Klaus Otto (Hrsg.), Wegweisungen. Auf der Suche nach gelingendem Leben; Georg Bubolz/Klaus Otto (Hrsg.), Jesus begegnen. Impulse aus dem Evangelium; Georg Bubolz/Klaus Otto (Hrsg.), Spuren Gottes. Vom Unbedingten reden. München 2012-2013.
[2] Auf die Komplexität der Interpretation von Gen 22 wird hingewiesen in: Thomas Naumann, Die Preisgabe Israels. Genesis 22 im Kontext der biblischen Abraham-Sara-Erzählung, in: Bernhard Greiner, Bernd Janowski, Hermann Lichtenberger (Hrsg.), Opfere deinen Sohn! Das ‚Isaak-Opfer’ in Judentum, Christentum, und Islam, Tübingen 2007, S. 24-27. - Im Blick auf die Jugendlichen reicht es allerdings nicht, wenn sie Forschungsmethoden rezipieren. Sie müssen auch lernen, ihr Lernen zu organisieren - in diesem Zusammenhang wird zuweilen vom reflexiven Mechanismus „Lernen des Lernens" gesprochen -, indem sie Arbeitsmethoden erwerben, die ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erhöhen. Zu jedem Band liegt vom Verfasser ein „Methodenhandbuch“ vor: München 2012-20013. Für das Erlernen von Arbeitstechniken kann u.a. empfohlen werden: Heinz Klippert, Methoden-Training. Übungsbausteine für den Unterricht, 6. Aufl. Weinheim und Basel 1997.
[3] Bereits der Lehrplan „Evangelische Religionslehre“ für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1999 verwies in diesem Zusammenhang auf „konkurrierende Deutungen anderer Religionen und Weltanschauungen“, die neben den „Aussagen von Glauben und Theologie (theologische Themenfelder)“ zu berücksichtigen seien.